Wie lassen sich im Landkreis Ludwigslust-Parchim Bewusstsein und Sichtbarkeit für künstlerisch-kreative Leistungen und Kreativschaffende im ländlichen Raum stärken? Wie lässt sich ein kulturelles Gemeinschaftsgefühl finden? Wie lässt sich ein gemeinsames Selbstverständnis für eine Profilierung nach außen nutzen, die bis in die Metropolen ausstrahlt? Dem zweitgrößten Landkreis in Deutschland, der durch die Gebietsreform geschaffen wurde, fehlt bislang eine „kulturelle Identität“ und damit auch Zusammenhalt und emotionale Verbindung.
Identität und Selbstbewusstsein stärken
Um das zu ändern, konzipierte Corinna Hesse in Kooperation mit dem Kreiskulturrat Ludwigslust Parchim die Workshop-Reihe „Wer sind wir? Wie sind wer!“ Sie fand in den Kleinstädten Boizenburg und Dömitz statt, außerdem im Dorf Nieklitz sowie coronabedingt auch online. Ziel war es, die Besonderheiten kultureller und regionaler Identitäten zu ermitteln, zu beschreiben und künstlerisch-medial darzustellen. Rasch stellte sich heraus: Das Wissen der Bürger*innen über die regionale Kultur ist enorm (dies zeigte sich bereits im Rahmen des Regiobranding-Projektes Elbe505 ), wurde aber bisher wenig gebündelt und nach außen getragen. Im Verlauf der Workshops wurde die Verbindung von Natur und Kultur als Besonderheit der Kulturorte im ländlich geprägten Landkreis festgestellt. Dies hat auch für Bewohner*innen und Besucher*innen einen besonderen Wert.
Vernetzung
In Kooperation mit Touristikern des Landkreises wurde der Fokus geschärft, inwiefern künstlerisch-kreative und kulturelle Projekte den ländlichen Raum um Ludwigslust-Parchim beleben und attraktiver machen. Es konnte demonstriert werden, wie sich Abwanderung und Verödung im ländlichen Raum vorbeugen und stoppen lässt. Für den Zuzug von Fachkräften in den ländlichen Raum sind neben harten Faktoren (Arbeitsplatz, Mobilität, Versorgung…) inzwischen auch weiche Faktoren anerkannt (Natur, Freiräume, Freizeit- und Kulturorte mit künstlerisch-kreativen Angeboten). Zugleich wird über Kulturprojekte das Bewusstsein der alteingesessenen Bevölkerung für ihre Heimat und die Bindung an die Region gestärkt, was Resignation und Abwanderung vorbeugt. Kunst und Kultur wirken auf Zugezogene und Touristen gleichermaßen attraktiv, die kulturellen Angebote werten die Region auf. Sie werden nachgefragt und erzeugen regionale Wertschöpfung. Dies stärkt die Zufriedenheit in der Region und beugt Polarisierung und Radikalisierung vor.
Auseinandersetzung mit der Heimat
Kreative thematisieren und spiegeln in ihren Werken häufig gesellschaftliche Herausforderungen. Sie sind Seismografen für Fehlentwicklungen und stellen Widersprüche zur Diskussion. Sie suchen den Dialog mit den Mitbürger*innen, fordern zur Auseinandersetzung auf, zeigen die Vorteile für ein gemeinschaftliches Leben in kultureller Vielfalt bzw. führen Szenarien vor Augen, wohin Diskriminierung und Polarisierung führen können.
Nutzung kreativer Methoden
In mehreren Workshops wurde mit verschiedenen kreativen Methoden gearbeitet: einem wandernden World Café, mit Mindmapping, Oral History, Audio- und Filminterviews, 4C’s Framework und Graphic Recording (Zeichnungen: Andrea Köster ). Der letzte Workshop mit Antje Hinz und Jasmin Sepahzad fand online auf ZOOM statt (statt geplant im Dorf Wangelin).
Impulsvorträge
Gastreferentin Christina Korr vom Tourismusverband Mecklenburg-Schwerin schilderte in ihrem Impulsvortrag, was Besucher*innen aus Metropolen in den ländlichen Raum lockt. Was wissen Touristen speziell im Landkreis LUP schätzen, warum sie in die Region reisen und wo sie Verbesserungsbedarf sehen (u. a. bei Öffnungszeiten der Kulturinstitutionen). Künstlerin Daniela Melzig stellte ihr interaktives, analog-digitales Veranstaltungsformat Kunstradius 40km vor. Wolfgang Vogt berichtete über seine Erfahrungen mit Besucher*innen im Kunstforum Pampin , welche künstlerisch-kreativen Angebote besonders nachgefragt werden. Persönliche, intensive Gespräche mit Künstler*innen zu aktuellen Themen unserer Zeit würden besonders wertgeschätzt. Jasmin Sepahzad , Mitarbeiterin für Öffentlichkeitsarbeit und Umweltbildung, präesentierte die besonderen Angebote im Wangeliner Garten , „einer Insel der Vielfalt in der weiten Landschaft Mecklenburgs, unweit des Plauer Sees, einem Ort der Begegnung, Besinnung und des Staunens. Natur, Kultur, Bildung und Genuss treffen hier aufeinander.“ Zu den Alleinstellungsmerkmale gehören einzigartige kulturelle Erlebnissen (z. B. Konzerten, Vorträge, Lesungen, Kino) inmitten idyllischer Landschaft, eines Schau- und Lehrgarten mit „wohltuenden Düften, heilenden Kräutern und bezaubernden Blumen, die Raum und Zeit vergessen lassen.“
Ideen- und Formatentwicklung
In Workshops wurden Künstler*innen und Kreativschaffende vernetzt und nach ihren Herausforderungen, Bedarfen und Wünschen gefragt. Immer wieder wurde mangelnde Sichtbarkeit beklagt. Im kreativen Dialog wurden gemeinsam Live-Formate für wandernde Veranstaltungen sowie mediale Formate (Online und Print) für eine gestärkte Wahrnehmung in der Öffentlichkeit entwickelt. Inhalte, Hürden, Partner und Lösungen wurden in den Blick genommen. Als wiederkehrendes Problem wurde der Mangel an Förderprogrammen genannt sowie identifiziert, dass das Verfahren Konzeptentwicklung und Antragstellung in ehrenamtlicher Arbeit erfolgen muss. Dies können Kreativschaffend neben ihrer künstlerischen Tätigkeit häufig nicht leisten. Andererseits würden viele kommunale Fördertöpfe, mit kommunaler Eigenbeteiligung sowie auf Landes, Bundes- und EU-Ebenen häufig nicht abgerufen, da in den Kommunen ein chronischer Personalmangel besteht, so die Beobachtung der Kreativen. Zukünftig soll geprüft werden, inwiefern für einen künstlerisch-organisatorischen Intermediär eine Netzwerkstelle geschaffen und an die Kommune angebunden werden, um Förderanträge auf den Weg zu bringen und Projekte zu steuern.
Herausforderung Corona
In Reaktion auf Corona wurden auch neue Vermittlungsmethoden erprobt. Es ist im Projekt gelungen, auch ältere nicht-computeraffine Kreativschaffende anzuleiten und zu professionalisieren, so dass ein Workshop als digitales Webmeeting über ZOOM stattfinden konnte, weitere Netzwerkveranstaltungen folgten seitdem. Junge Kopfarbeiter, die ihre Fähigkeiten aus der Stadt mitgebracht hatten, haben Ihr Wissen und ihre Fähigkeiten geteilt. Der Wissenstransfer aufs Land hat enorm zur Selbstermächtigung und zum eigenverantwortlichen Handeln der Landbewohner*innen beigetragen, Stadt-Land-Hürden konnten überwunden werden.
Digitales Arbeiten
Für die Aufzeichnung der Workshop-Ergebnisse wurde mit digitalen Tools gearbeitet (Miro-Board). Anknüpfend an das methodische Format “4C’s Framework” (Collect, Choose, Create, Commit) konnten die Teilnehmer*innen Ideen sammeln, auswählen, kreieren und festlegen. Aufbauend auf den Live-Workshops in Dömitz sammelten die Teilnehmer*innen beim Online-Workshop Ideen für eine Werbe-Printpublikation und medialen Formaten auf der Website. Erörtert wurde unter anderem, inwiefern Schnittstellen zwischen analogen und digitalen Medien und Angeboten hergestellt werden müsse, wie über den Flyer (QR-Code, Webadresse) auf die Website des Kreiskulturrates aufmerksam gemacht werden sollte (und umgekehrt). Auch über Facebook wird das Netzwerk stärker sichtbar.
Sichtbare Ergebnisse
Auf der Website wurden ein Online-Fragebogen und eine Landkarte aufgesetzt, in die sich Künstler*innen und Kreativschaffende mit ihren Angeboten und Leistungen eintragen können, um regional und überregional sichtbar zu werden. Die Resonanz ist schon jetzt überragend: Bislang haben sich rund 60 Akteur*innen beteiligt, in Texten und Fotos dargestellt, was ihre künstlerisch-kreativen Arbeit auszeichnet und wie sich die Besonderheiten der Region in ihren Werken und ihrem Tun widerspiegeln. Diese Informationen sind sowohl für Einheimische wertvoll, die ihre Umgebung mit neuen Augen entdecken, als auch für Tagestouristen und Gäste aus den umliegenden Metropolen. Sie stärken mit ihren Besuchen bei den Kreativschaffenden das Auskommen, nutzen auch Hotellerie, Gastronomie, Einzelhandel und Nahverkehr und stärken daher die Wirtschaftskraft der gesamten Region. Künstler*innen werden so zum Motor der gesamten Region und werden von den Bewohner*innen nicht nur als „Sahnehäubchen“ wahrgenommen, sondern als „Hefe“ im Teig: Wer sind wir? Wir sind wer!
Ein Filmteam (Antje Hinz & Björn Kempcke, MassivKreativ ) war vor Ort, um die Teilnehmenden zu befragen: Was sind besondere Kulturorte bei uns im Landkreis? Was gibt es dort zu entdecken? Die Interviews für den Film Kultur und Natur im Landkreis Ludwigslust-Parchim die Vielfalt der Region und ihrer engagierten Akteur*innen sowie der Vertreter*innen der Kommunen.
Weitere Vorhaben
In Kooperation mit der Landkreisverwaltung wird im Laufe des Jahres 2021 aus den Inhalten ein gedruckter Kulturflyer gestaltet werden, der zum 10-jährigen Jubiläum des Landkreises (Kreisgebietsreform 2011) erscheinen soll. Das Grundkonzept für den Flyer wurde als Ergebnis des letzten Workshops erstellt. Zum Jubiläum im September 2021 soll eine Kreiskulturkonferenz stattfinden, auf der der Kulturflyer und die Portraits der Kulturorte und –akteur*innen auf der Website www.kultur-lup.de der Öffentlichkeit vorgestellt werden. 2021 soll neben den regelmäßigen Sitzungen des Kreiskulturrats ein monatlicher Kultur-Stammtisch eingeführt werden, in dem der Austausch über aktuelle Projekte und Optionen für gemeinsames Marketing weitergeführt werden sollen.
Text: Antje Hinz
Zeichnung: Andrea Köster
Zeichnung: Andrea Köster
Zeichnung: Andrea Köster