In einsamer Idylle zwischen dem Biosphärenreservat Schaalsee, der Flusslandschaft Elbe und weiten Wiesen und Feldern liegt das etwa zehn Hektar große Gelände des ehemaligen Zukunftszentrums von Nieklitz, heute betrieben von der Akteursgruppe und Genossenschaft Wir bauen Zukunft . Zwischen 2000 und 2013 wurde hier ein ökologischer Erlebnispark betrieben. Nach der Idee des enthusiastischen Kieler Biologieprofessors Berndt Heydemann, dem späteren Umweltminister von Schleswig-Holstein, sollten BesucherInnen an liebevoll gestalteten Exponaten mitten in der Natur mehr über Bionik und Ökotechnologien erfahren. Doch die Besucherzahlen blieben stark hinter den Erwartungen zurück. 2013 stellte das Land MV die finanzielle Förderung ein und der Park verfiel.
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Dornröschenschlaf
Als Ceylan Rohrbeck das Gelände im September 2015 zum ersten Mal besucht, ist sie wie verzaubert: „Weil der Park schon fast 3 Jahre geschlossen war, war alles schon total verwildert und gleichzeitig so wunderschön. Wir hatten bis dahin noch nie so ein Stück Natur in Deutschland gesehen. Und es entstanden in unserem Kopf auf einmal ganz viele Visionen, was man da alles machen und umsetzen könnte. Wir haben viele Fotos gemacht und sind dann nach Tempelhof gefahren.“
Schloss Tempelhof in Süddeutschland zwischen Würzburg und Ulm ist genau genommen eine Zukunftswerkstatt. Mit 50 Freiwilligen aus der ganzen Welt wurde hier das erste earth ship in Deutschland gebaut. Das ist ein Haus, komplett aus Recyclingmaterialien erbaut, wie es der US-amerikanische Architekt und Nachhaltigkeitsexperte Michael Reynolds einst ersann. Als Teil der Freiwilligen genießt Ceylan die besondere Aufbruchstimmung in Tempelhof. Sie führt gemeinsam mit Sebastian Rost von Filming for Change mit den Akteuren Interviews, macht kleine Filme und stößt auf Gleichgesinnte, die wie sie selbst auf der Suche sind. So entsteht die Projektgruppe Wir bauen Zukunft , die in den nächsten Monaten auf etwa 20 Personen anwächst. Es wird viel diskutiert und geplant. Man tauscht sich über Wünsche, Ziele und Vorstellungen für ein gutes, sinnstiftendes Leben aus. Anknüpfend an die indigenen Weisheiten der Aborigines findet die Gruppe mit der Methode „Dragon Dreaming“ einen gemeinsamen Nenner für ihr Anliegen: Dienst an der Erde, Aufbau von Gemeinschaft, persönliches Wachstum. Und während das innere Selbstverständnis Gestalt annimmt, steht die nächste Herausforderung an. Könnte der Ökopark im Mecklenburgischen Nieklitz ein geeigneter Ort für das neue Lebenskonzept werden?
Sinn des Lebens
Ceylan Rohrbeck, Mitbegründerin von Wir bauen Zukunft und Initiatorin des Co Working Spaces in Nieklitz, ist ursprünglich in Berlin aufgewachsen. Sie hat in Potsdam an der Filmhochschule „Konrad Wolf“ Film und Fernsehproduktion studiert und einige Jahre im Filmbereich gearbeitet. Das hieß: Lange, unregelmäßige Arbeitszeiten, oft auch an Wochenenden, wenig Zeit zur Ruhe zu kommen. In der überfüllten und oftmals stressigen Hauptstadt Berlin wächst der Wunsch nach einer Auszeit, einem anderen Leben abseits von Hektik und Konsumzwängen. Doch wie genau könnte so ein Leben aussehen? Auch Ceylans Cousine Lale will nach ihrem Studium in Berlin zurück in die Mecklenburgische Heimat. Was ließe sich dort Sinnvolles machen? Wie könnte man den Lebensunterhalt bestreiten?
Kurz zuvor hatten die beiden ja vom Bau des earthship in der Zukunftswerkstatt Tempelhof erfahren. Ließe sich so ein Bau auch in Mecklenburg realisieren? Mit dieser Frage traten erste Engagierte aus der Gruppe an den Leiter des Biosphärenreservates Schaalsee, Klaus Jarmatz, heran. Er empfiehlt das ehemalige Zukunftszentrum „Mensch – Natur – Technik – Wissenschaft“ (ZMTW) in Nieklitz im Westen von Mecklenburg.
Familienbande: Ceylan, Lale und Ute Rohrbeck (v.l.n.r.)
Genossenschaft
Ceylan Rohrbeck gehört bald zu den neuen Zukunftserbauerinnen der Region. Kontakte und Freunde in der Region helfen mit den richtigen Ansprechpartnern. Und dann geht alles recht schnell. Mit einem Privatdarlehen kann die Gruppe das Nieklitzer Gelände kaufen. Im Juni 2016 wird die Genossenschaft „Wir bauen Zukunft“ eG gegründet, angeschlossen ist außerdem der Verein Ecosphäre e.V. als Träger für gemeinnützige Projekte. So können verschiedene Nutzungsarten abgedeckt werden. In der Öffentlichkeit und gegenüber der einheimischen Bevölkerung setzt die Gruppe von Anfang an auf Transparenz. Sie will den Eindruck vermeiden, dass da kreative Spinner hinter verschlossenen Türen merkwürdige Aktivitäten planen. Im Biosphärenzentrum informieren sie über ihre Pläne und sind offen für neue Ideen und Interessenten. „Wir haben auf unserem neu erworbenen Gelände Tage der offenen Tür veranstaltet, wo wirklich viele Menschen kamen“, erzählt Ceylan, „sowohl Leute von außerhalb als auch aus der Region, die wir schon kannten. Und so waren uns alle sehr wohl gestimmt und haben uns unterstützt, so dass wir einen guten Start haben konnten“.
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Kokreatives Netzwerk
Inzwischen ist viel passiert. Aus Individuen hat sich ein „Kreativcluster“ gebildet, „mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten “, wie Ceylan erzählt: „Designer, Architekten, Ingenieure, IT-Spezialisten, Tischler, Permakultur-Experten, Soziologen, Coaches, Experten für nachhaltige Landwirtschaft, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit usw.“ Die Gruppe hat sich in ihrem Selbstverständnis konkretisiert und verfestigt. Zwischendurch kamen neue Interessenten, andere gingen wieder. Gemeinschaft ist ohnehin nie fertig. Sie wächst und erweitert sich stetig, auf der Basis gleicher Wertvorstellungen, die in Gruppenprozessen ermittelt wurden, begleitet von professionellen Coaches und Moderatoren. Enorm wichtig, um die Gemeinschaft gut zu entwickeln. Das Wabenhaus ist das Herzstück der Zukunftsbauer, dient als Seminarhaus und Coworking-Space. Ihre Philosophie beschreibt die Gruppe so: „Wir experimentieren, reflektieren, lernen und nutzen transparente und organische Strukturen, sowie die Kraft von Kollaboration und Kreativität. Unsere Themen sind: Kreislaufwirtschaft, Open Source, Nachhaltiges Planen und Bauen, Permakultur Design, Nachhaltiges Unternehmertum, Verantwortungsbewusstes Miteinander.“ Auch neue Forschungsthemen stößt die Gruppe an, etwa Studien- und Masterarbeiten über nachhaltiges Planen und Bauen, Architektur, ökologische Landwirtschaft und über das Ökosystem von Binnengewässern (Limnologie).
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Gemeinsam für die Zukunft lernen
Die Akteure von „Wir bauen Zukunft“ sind immer in Bewegung – mit dem Körper und dem Kopf. In verschiedenen Arbeitskreisen verfolgen sie genau das Thema weiter, das sie persönlich interessiert, für das sie brennen und weitere Fähigkeiten erwerben möchten. So entwickelt sich die Gruppe stetig weiter und lernt, nicht zuletzt auch über den Austausch mit neuen Leuten von außen. Community Building ist ein wichtiges Thema, das sowohl digital als auch analog vorangetrieben wird. Über die Facebookgruppe werden Veranstaltungen beworben. So wird neues Wissen in die eigene Gruppe geholt und eigene Erfahrungen auch wieder in die Welt hinausgetragen. Gemäß dem „open source“-Gedanken wird hier – wenn man so will – eine wissensbasierte Kreislaufwirtschaft betrieben. Regelmäßig finden Seminare, Workshops, KreativLabs sowie größere Camps statt, in denen sich die TeilnehmerInnen über ihre Ideen, Projekte und Visionen austauschen. Die Gruppe „Wir bauen Zukunft“ besteht aus einem harten Kern von etwa 20 MitstreiterInnen. Im weiteren Umfeld erreichen die Nieklitzer inzwischen an die 3.000 Mitinteressenten.
Synergien aus Projekten
Zeitgleich entstehen mehrere kleinere Vorhaben. Ceylan arbeitet gerade an einem Filmprojekt. Es soll Kreativschaffende neugierig und aufmerksam auf Mecklenburg Vorpommern machen und eine etwaige Ansiedlung von Unternehmen und Unternehmer*innen fördern!
Alle Projekte in Nieklitz haben gemeinsam das große Ganze im Blick: die zukunftsfähige Gesellschaft im Kreislauf und im Gleichgewicht: mit einer autarken Energie-, Wasser- und Abwasserinfrastruktur, mit flexiblen bzw. mobilen Wohneinheiten, wie z. B. eine Tinyhouse Siedlung für nachhaltiges Bauen und einer Plattform für Offene Werkstätten . Sie bauen schon heute eigene Nahrungsmittel an, planen Freizeitangebote, entwickeln neue Technologien und wollen demnächst Kleinserien in ihrer gerade entstehenden Werkstatt produzieren, dem Green Circular Economy FabLab. „Wir planen offene Werkstätten, die verschiedene Zielgruppen nutzen sollen“ sagt Ceylan, „z. B. auch Handwerker in der Region, die sich bei uns einmieten können und an Projekten tüfteln. Wir wollen dabei analoges Handwerk mit digitalem Arbeiter verbinden, damit sich das befruchten kann.“
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Corona weckt neue Bedarfe
Laut einer Emnid-Umfrage (Wohnwünsche der Deutschen ) möchte die Mehrheit der Deutschen im ländlichen und kleinstädtischen Raum leben. Für viele bleibt es ein Traum. Doch das muss nicht so sein. Der Weg von der „Stadtmüdigkeit zur Landfrische“ ist kürzer als gedacht. Wer Impulse für seine Zukunft auf dem Land braucht, kann sie sich im Westmecklenburgischen Nieklitz holen. Aktuell bewegt Ceylan die Frage, wie Kreative zumindest zeitweise den Weg aus der Großstadt aufs Mecklenburgische Land finden können. Um einen Coworking-Standort wie Nieklitz noch bekannter zu machen, könnte auch die Wirtschaftsförderung des Landes MV helfen, so Ceylan: „Im Augenblick wird ja viel in die Städte investiert, in Schwerin, Rostock und Greifswald. Aber halt noch nicht wirklich ins Land. Wir in Nieklitz arbeiten daran, damit sich daran etwas ändert und wir das Vertrauen der Wirtschaftsförderer gewinnen. Es ist wichtig, dass auch mitten auf dem Land ein erfolgreiches Innovationszentrum mit neuem Denken und vielfältigen Menschen und Talenten entstehen kann und eine entsprechende Nachfrage erreicht.“
Text: Antje Hinz
PODCAST: Interview mit Ceylan Rohrbeck
Antje Hinz interviewte Ceylan Rohrbeck für die Studie (2020): Standortoffensive Westmecklenburg: Wirtschaftsförderung 4.0 durch Kultur- und Kreativwirtschaft . Online-Umfrage, qualitative Interviews und Strategiekonzept. Hier mehr…